Montag, 4. März 2013

Mein Hof



Es ist gewöhnlich geworden, dass ich aus meinem Fenster in die der anderen blicke. Man wohnt mir gegenüber und zu beiden Seiten. Hier ist Hoflage, ein Betonplatz, in schiefem Sechseck umbaut. Mietskaserne schmucklosen Typs. Zeitgenössisches Berliner Milieu. Ich in der Loge.

Dort drüben hausen sie bar jeder Gardine, da hinter Jalousien. Die Fenster: Bekreuzigt, hoch, schmal, hölzern, morsch, überstrichen. Die Fassaden: von ockergelber Farbe, mehrfach zerplatzt, von Sonne und Regen erzählend, ins rote Schrägdach eingewachsen, wo ein backsteinerner Schornstein des Winters quarzt. Die Menschen: auf Fluren und Treppen schwer zu erblicken, kaum zu grüßen.

Und so entwickelt sich Kennerschaft durch die Fenster mehr als durch das Aufschließen einer gemeinsamen Tür. An den Fenstern gestatten meine Mitmieter Mutmaßungen über ihr Leben. Da ist die Hure auf dem Fensterbrett im ersten Stock des Vorderhaus: Rittlings vor dem Laptop, per Internet zu Hause. Russisch säuselt sie auf den Bildschirm ein, russisch raunt ihr Mann zurück. Zwischen ihnen kräuselt sich der Qualm ihrer Zigarette.

Links im Hinterhaus: Da wohnen Weltverweigerer mit schwarzlastigem Modegeschmack und halb rasierten Köpfen. Wenig zu sehen, hörbar allerdings im Ausüben von Musik. Einmal im Monat versucht sich ein Bassist an schmerzlich falschen Griffen, überlässt gequälte, schiefe Töne einfach dem Hall. Und dies ist kein Ort, wo eine Wand auch nur den leisesten Klang behalten mag. Kein Klang verrät hier gerne seine Quelle.

Sorge macht mir die alte Frau, auf der gegenüberliegenden Gebäudeflügel. Wie sie sich dort hinter ihren feinmaschigen Gardinen verpackt den Fernsehtstimmen hingibt. Durch dünnes Glas ist Schwerhörigkeit nicht zu verheimlichen. Nicht nachts, wenn es hinter allen anderen Fenstern schweigt. Wenn die Lichter verlöschen, bleibt an ihren Fenstern ein fahl-blaues Flimmern, und Dialoge gehen um in Finsternis. Stimmen zu denen sie schweigt. Stimmen, die erst ersticken, wenn der Rest des Hauses geräuschvoll erwacht am Morgen. Ich fürchte, es wird lange nicht auffallen, wenn die alte Dame geht. Der Fernsehstimmen wegen und der Seltenheit ihrer Prüfblicke am Fenster der viel zu großen Wohnung.

Wenn sie geht, dann wird es hier fremder geworden sein. Und es würde jemand einziehen, über den man sich in diesem Haus – nicht wundert.

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