Es ist gewöhnlich geworden, dass ich aus meinem Fenster in die der anderen blicke. Man wohnt mir gegenüber und zu beiden Seiten. Hier ist Hoflage, ein Betonplatz, in schiefem Sechseck umbaut. Mietskaserne schmucklosen Typs. Zeitgenössisches Berliner Milieu. Ich in der Loge.
Dort drüben hausen sie bar jeder
Gardine, da hinter Jalousien. Die Fenster: Bekreuzigt, hoch, schmal,
hölzern, morsch, überstrichen. Die Fassaden: von ockergelber Farbe,
mehrfach zerplatzt, von Sonne und Regen erzählend, ins rote
Schrägdach eingewachsen, wo ein backsteinerner Schornstein des
Winters quarzt. Die Menschen: auf Fluren und Treppen schwer zu
erblicken, kaum zu grüßen.
Und so entwickelt sich Kennerschaft
durch die Fenster mehr als durch das Aufschließen einer gemeinsamen
Tür. An den Fenstern gestatten meine Mitmieter Mutmaßungen über
ihr Leben. Da ist die Hure auf dem Fensterbrett im ersten Stock des
Vorderhaus: Rittlings vor dem Laptop, per Internet zu Hause. Russisch
säuselt sie auf den Bildschirm ein, russisch raunt ihr Mann zurück.
Zwischen ihnen kräuselt sich der Qualm ihrer Zigarette.
Links im Hinterhaus: Da wohnen
Weltverweigerer mit schwarzlastigem Modegeschmack und halb rasierten
Köpfen. Wenig zu sehen, hörbar allerdings im Ausüben von Musik.
Einmal im Monat versucht sich ein Bassist an schmerzlich falschen
Griffen, überlässt gequälte, schiefe Töne einfach dem Hall. Und
dies ist kein Ort, wo eine Wand auch nur den leisesten Klang behalten
mag. Kein Klang verrät hier gerne seine Quelle.
Sorge macht mir die alte Frau, auf der
gegenüberliegenden Gebäudeflügel. Wie sie sich dort hinter ihren
feinmaschigen Gardinen verpackt den Fernsehtstimmen hingibt. Durch
dünnes Glas ist Schwerhörigkeit nicht zu verheimlichen. Nicht
nachts, wenn es hinter allen anderen Fenstern schweigt. Wenn die
Lichter verlöschen, bleibt an ihren Fenstern ein fahl-blaues
Flimmern, und Dialoge gehen um in Finsternis. Stimmen zu denen sie
schweigt. Stimmen, die erst ersticken, wenn der Rest des Hauses
geräuschvoll erwacht am Morgen. Ich fürchte, es wird lange nicht
auffallen, wenn die alte Dame geht. Der Fernsehstimmen wegen und der
Seltenheit ihrer Prüfblicke am Fenster der viel zu großen Wohnung.
Wenn sie geht, dann wird es hier
fremder geworden sein. Und es würde jemand einziehen, über den man
sich in diesem Haus – nicht wundert.

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